DER SPÄTE ZORN DER MAGDALENA FELKEN

(Textauszug)

 

Das Grundstück

 

Der Kellner brachte bereits die zweite Flasche Rotwein und das Lokal hatte sich schon merklich geleert. Nur noch drei ältere Ehepaare und eine Gruppe von etwa zehn Leuten, die den Anschein vermittelten, sie feierten in dieser, weit über die Stadtgrenzen von Moers bekannten Gaststätte ihre Betriebsfeier, verteilten sich in den Weiten der im irischen Stil eingerichteten Räume. „Ob der überhaupt noch auftaucht?“ Derjenige, der diese Frage an sein Gegenüber richtete, war der Kämmerer der Stadt und der enge Freund von demjenigen, dem die Frage galt. Dieser Freund kannte sich bestens in Immobilienfragen aus und mit allen rechtlichen Fragen, die mit Eigentumsübertragungen verbunden sind. Die Frage, die der Kämmerer Brandner gestellt hatte, schwebte bereits zuvor schon eine ganze Weile unausgesprochen im Raum und ließ die Gedanken des anderen, des Notars Vinhardt, augenblicklich zerplatzen.

 

Bis zu diesem Moment hatte sich dessen Phantasie mit der Summe beschäftigt, die ihm das Projekt einbringen würde, das der Anlass für das abendliche Treffen der beiden Freunde und des noch nicht erschienen Dritten war. Notar Thomas Vinhardt blieb gelassen: „Keine Sorge, der kommt schon noch. Wahrscheinlich hat sein Flieger Verspätung und von Düsseldorf-Lohausen nach Moers ist es um die Uhrzeit immer noch sehr lebhaft auf den Straßen.“ Derjenige, der erwartet wurde, trug den Namen Piet Svertum und war der Interessent in dem geplanten Geschäft. Ein großes Gelände sollte den Besitzer wechseln und in Zukunft als Gewerbegebiet dienen. Würde das Geschäft abgeschlossen und das Projekt umgesetzt werden, dann wäre das ein Coup, von dem im Rat und in der Verwaltung ansonsten kaum jemand etwas ahnte. Etwas Vergleichbares hatte es in der Geschichte dieser Stadt am Niederrhein noch nicht gegeben und kam einem Lotteriegewinn gleich. Doch nicht nur die Stadt würde zu den Gewinnern zählen, sondern auch der Investor Svertum mitsamt der anderen Geldgeber, die anonym im Hintergrund standen und insbesondere etliche Arbeitslose, die sich nun Hoffnung auf neue Anstellungen in den neu anzusiedelnden Betrieben machen durften.

 

Diese glückliche Fügung war das Resultat eines auslaufenden langjährigen Pachtvertrages, den die Familie Gernhenke mit der Stadt abgeschlossen hatte. Die Formulierung langjährig vermittelte dabei nur einen sehr unzureichenden Eindruck von der Vertragsbindung, die zwischen der Bauernfamilie und der Stadt existiert hatte. Um genau zu sein, wurde dieser Pachtvertrag im Jahr 1804 abgeschlossen, also noch zu der Zeit, als Napoleon die politischen Geschicke dieses Gebietes bestimmte. Der Vertrag sah vor, dass die Pächter das Gelände, mitsamt des Gehöftes, das auf ihm stand, nutzen durften und dafür jedes Jahr 20 Fuder Korn zwei Schweine und zwölf Hühner beim Bürgermeister abzuliefern hatten. Die Bezahlung, die seit Vertragsbeginn in jedem Jahr ordnungsgemäß erfolgte, sollte schon vor Jahrzehnten nicht mehr zu einer öffentlichen Gaudi ausufern, die zu Lasten des Bürgermeisters ging, und so hatte man sich darauf verständigt, den Obolus nicht mehr in Naturalien zu entrichten, sondern einen kaum nennenswerten Geldbetrag zu transferieren. Vollkommen ungewöhnlich waren das einseitige Kündigungsrecht, das nur bei den Pächtern lag und das Faktum, dass der Vertrag von Generation zu Generation vererbt wurde und unbefristet war. Ein Ende dieser Verbindung bestand somit ausschließlich in der Aufgabe der Pächter oder in dem Fall, der nun eingetreten war, im Aussterben der Familie Gernhenke.