DIE BRÜCKE ZUR WAHRHEIT

 

Die hier zu beschreibende Geschichte liegt bald 3 Jahre zurück. An jenem Tag war ich mit dem Fahrrad unterwegs und befand mich auf dem Heimweg. Dieser Heimweg wiederum führte mich über eine der Duisburger Rheinbrücken. Aus größerer Distanz erkannte ich einen jungen Mann, der sich etwa in der Mitte der Brücke aufhielt. Mit seinen nicht einmal 30 Jahren mochte er vielleicht halb so alt sein, wie ich selbst. Er kauerte auf der Leitplanke, die den Fuß- und Radweg von der Fahrbahn trennte. Als ich näher kam, verlangsamte ich mein Tempo und konnte, kurz bevor ich auf gleicher Höhe war, einen leicht verwahrlosten und geistig abwesend wirkenden Menschen sehen. Es war offensichtlich, dass er Probleme hatte. So unterbrach ich meine Tour, hielt an und fragte ihn, ob ich irgendwie helfen könne. Ich bekam tatsächlich auch eine Antwort: „Ja, du kannst abhauen“, rief er mir laut zu. Der aggressive Tonfall verunsicherte mich ein wenig und es erschien mir nicht ausgeschlossen, dass er zu Handgreiflichkeiten bereit war, sollte ich seiner Aufforderung nicht folgen. So schwang ich mich wieder auf’s Rad und trat zögerlich in die Pedale. Noch einmal hielt ich an, als ich etwa zehn Meter zurückgelegt hatte. Als ich mich umsah, saß er noch immer dort. Etwas Gravierendes stimmte nicht. Also verharrte ich in dieser Position, in der ich noch halb auf dem Fahrradsattel saß. Er blickte nicht zu mir hinüber und sah mich nicht an. In dem Augenblick, in dem ich beschloss zurückzukehren, konnte ich sehen, wie er aufstand, den Rad- und Fußweg überquerte und über das Geländer der Brücke stieg.

 

Von meiner rückwärts gewandten Position aus rief ich ihm zu, er solle eben noch auf mich warten.

 

Meine Erinnerung liefert mir ein eigenartiges Bild gleichzeitigen Auftretens unterschiedlicher Gedanken und Gefühle. Begleitet von einem unsäglichen Schrecken, bemerkte ich, dass mir eine Ungerechtigkeit widerfahren sollte. Ohne zeitlichen Versatz stellte sich aber auch eine unglaubliche Sicherheit ein. Ich war mir sicher, dass, wenn es mir gelingen würde, ihn mit meinem Zuruf vom Sprung abzuhalten, ich ihn zur Rückkehr bewegen würde. In diesem Moment wusste ich sogar, woher ich diese Sicherheit bezog. Der Grund war der, dass er mir schon zuvor geantwortet hatte. Der Inhalt und die Form seiner Antwort waren unerheblich. Dem Leser mag der Gedankengang an die Ungerechtigkeit, meine Person gegenüber, befremdlich wirken. Doch muss man sich vergegenwärtigen, dass mir selbst in diesem Moment mein eigenes künftiges Leben vor Augen stand. Ich würde mich dann als denjenigen sehen müssen, der einfach diese zehn Meter weiter gefahren war und sich nicht seiner Aufgabe, diesen Mann zu retten, gestellt hatte. Niemals würde ich diesen Anblick vergessen können und eine nicht auszulöschende Schuld würde in der Zukunft auf mir lasten.  

 

Wie selten zuvor in meinem Leben, stellte sich eine Wahrheit ein, die ich mit allen mir zur Verfügung stehenden Mitteln abzuwenden hatte. Ganz sonderbar empfand ich damals und empfinde ich auch heute noch, diese Simultanität der gedanklichen Abläufe, die sich wie in einem Stehenbleiben der Zeit darstellte. Das eigentliche physische Geschehen, das sich daran unmittelbar anschloss, vollzog sich dagegen unter Stress und in der gewohnten Art, zeitlicher Abfolgen.

 

Um mit dem Zuruf zu beginnen, stand ich vor dem Problem, die geeigneten Worte zu finden und sie in der angemessenen Lautstärke vorzubringen. Dann galt es, sich des Fahrrades zu entledigen und sich in seine Richtung zu bewegen, ohne ihn zu verschrecken. Nicht weniger wichtig war die Distanz, die ich zu ihm zu wahren hatte, wenn er für sich nicht die Gefahr ausmachen sollte, durch Zugriff an seinem Vorhaben gehindert zu werden. So hielt ich denn den gebotenen Abstand und mein erster Appell war der, dass er das seinen Leuten und auch mir nicht antun könne.

 

Mit dieser Äußerung hatte ich gelogen. Ich hatte sogar sehr bewusst gelogen, denn natürlich konnte er. Doch es ging in diesem Moment nicht um Wahrheit sondern um ein Menschenleben. So war dieser Satz im Grund nichts anderes, als ein Versuch, ihn zum erneuten Einsetzen seiner Überlegungen zu bringen. Solange er nicht zum Schluss seiner Überzeugungen gekommen war, solange es darum ging, in seiner Entscheidungsfindung neue Aspekte einzuarbeiten, war das Ende noch nicht erreicht.

 

Diesen Blick, den er nach meinem Einwurf auf mich richtete, werde ich wohl nie vergessen. Zuvor war ich offenbar nur ein lästiger Passant gewesen, doch mit einem Mal trat ich für ihn als Mitmensch in Erscheinung. Der Blick verriet mir, dass er nicht wirklich verstand. Er wusste nicht, was ich damit zuschaffen hatte. Er verstand zwar nicht, aber er begann darüber nachzudenken. Das war es, was ich erreichen wollte. Nicht die beschwichtigenden Beschwörungen, alles würde wieder gut, oder es sei bestimmt nicht so schlimm, als dass man einen solchen Schritt machen sollte, waren die Argumente, die ich zuerst vorbringen wollte. Das alles hatte er mit Sicherheit zuvor bis zum Ende durchventiliert und die Behauptung, alles würde sich zum Guten wenden, war eher dazu geeignet, ihm sein Elend erneut vor Augen zu führen.

 

Meine eigenen und die Erfahrungen aus meinem Umfeld sagten mir, dass die Unfähigkeit, über Probleme reden zu können, selbst zum Problem werden kann und das ursächliche in eine unerträgliche Weise verstärken kann. Die Ursache der Sprachlosigkeit liegt in der Regel in einem desinteressierten oder ungeeigneten Umfeld, oder dazu alternativ, in der Unfähigkeit des Betroffenen selbst, sich zu öffnen. Mit welcher dieser beiden Möglichkeiten ich es zu tun hatte, wusste ich nicht. Einige Sekunden der Unsicherheit machten sich breit, weil mir nicht klar war, wie ich dieser Fragestellung beikommen sollte. War es bei ihm das Problem, dass er die Fähigkeit nicht besaß, das was ihn belastete, benennen zu können, so wäre meine Frage nach der Ursache vermutlich fatal. Die Chance auszulassen, ihm ein Forum für die Dinge zu bieten, die ihn antrieben, wäre andererseits nicht minder falsch. Ich behalf mich mit der Behauptung, gleichgültig was immer es auch sei, ich könne ihm helfen. Wiederum bekam ich einen Blick zugeworfen, der nichts anderes war, als ein Abschätzen desjenigen, der eine –aus seiner Sicht- absurde Behauptung aufstellte. Der Prozess der Abwägung verlief offenbar zu meinen Lasten. Noch bevor er sich äußerte, konnte ich seinem Gesicht ansehen, dass er das nicht glauben konnte oder wollte. „Kannst du nicht“, meinte er dann auch und starrte nach oben in die Luft. Doch ich beharrte darauf mit allem Ernst und aller Überzeugungskraft, die mir zur Verfügung stand. Damit meinte ich keineswegs nur den Weg vom Abgrund, sondern vielfältige Problemlösungsansätze zu allen möglichen Problemlagen, die mir bereits zu diesem Augenblick durch den Kopf geisterten, ohne auch nur im Ansatz eine Ahnung davon zu haben, was diesen jungen Mann an diese Stelle geführt hatte.

 

Wiederum hatten meine Worte, mein Widerspruch zu seiner Überzeugung, zu einem Zeitgewinn geführt und ich hatte Gelegenheit, ihm davon zu berichten, dass ich ausweglose Situationen kennen würde. Damit begann er nun, sich mit mir zu beschäftigen. Allem Anschein nach führte eine solche Feststellung bei dem Angesprochenen zu der Frage, was das denn wohl gewesen sein möge. Es war mir klar, wie wenig glaubhaft ihm das erscheinen musste, denn ich stand nun vor ihm und nicht gemeinsam mit ihm hinter dem Geländer der Brücke. Die folgenden Sekunden waren daher sehr heikel und ich musste folglich so eindringlich und überzeugend wie möglich, eigene Krisen schildern. Er hörte mir zu und war damit von dem eigenen Dilemma abgelenkt. Daher hatte ich wiederum die Möglichkeit, mein Angebot, ihm zu helfen, zu erneuern.

 

Doch diese Option schien für ihn abgeschlossen. Mit einem ständigen Rufen des Wortes „Nein“, das er nicht in meine Richtung, sondern wiederum mit einem nach oben gerichteten Gesicht ausrief, war dieser Weg zugeschlagen. Trotzig erneuerte ich meine Feststellung, ihm helfen zu können, schloss daran aber an, dass er mir natürlich nicht glauben müsse. Konfrontation war das Letzte, was ich gebrauchen konnte, durfte aber meine Glaubwürdigkeit nicht aufs Spiel setzen.

 

Von ihm bis zu diesem Zeitpunkt unbemerkt, hatte ich mich ihm genähert, in der Hoffnung, ihn festhalten zu können. Der Bruch in dem Gesprächsverlauf bot ihm nun Anlass, seine Aufmerksamkeit auf diese Annäherung zu lenken und sie festzustellen. „Bleib’ stehen“, schrie er mich an. Andernfalls würde er nun springen. Erneutes Entsetzen stellte sich ein. Doch eines offenbarte sich mir: Er würde sein Verhalten nach meinem ausrichten. Derartige Bedingungen aufzustellen, war nicht das schlechteste Zeichen von allen. „Wie du willst“, beschwichtigte ich ihn und machte einen, von etwa drei vorangegangenen Vorwärtsschritten zurück. Aber es machte sich dabei auch eine argumentative Ratlosigkeit breit. Fest stand, dass ich ihn aus der argumentativen Interaktion nicht entlassen durfte. Da ich mir sicher war, ihn mit einer direkten Frage nach seinem Problem, eher zu verschrecken, fragte ich ihn indirekt danach. Ich wollte von ihm wissen, ob ich ihn nach dem Problem fragen dürfte. Darauf bekam ich zunächst keine Antwort und um kein Vakuum entstehen zu lassen, wollte ich von ihm wissen, wie er heißt, wie alt er ist, was er so macht, ob er eine Beziehung habe, wo er wohne. Auch diese Fragereihe war durchaus mit Risiken behaftet. Dieser Sachverhalt war mir in dem Augenblick nicht gegenwärtig und es war ein großes Glück, dass er so reagierte, wie er es tat. Er nannte mir den Namen, seinen Namen. Die Frage nach seiner Beziehung konnte mit sehr großer Wahrscheinlichkeit mit seinem Problem in Verbindung stehen. Auch eine Obdachlosigkeit, ein Scheitern in seinem Beruf, die Bewusstwerdung der  

Kalamitäten seines Lebens, war etwas, was ich zu vermeiden getrachtet hatte. Vermieden hatte ich es mit diesen Fragen aber ganz sicher nicht. Erst nachdem ich sie ausgesprochen hatte, wurde mir meine Fehlleistung bewusst und war ich dankbar für den neuen Ansatz. Ich nannte ihm nun meinen Namen und glaubte zumindest, damit der Person, die ihm gegenüberstand, mehr „Substanz“ zu geben. Ob das gelungen ist, weiß ich bis heute nicht. Jedenfalls schwenkte ich zu meinen eigenen Problemen zurück und schilderte ihm, wie tief ich bereits in Problemen gesteckt hatte. Es war mir wichtig, deutlich zu machen, dass er nicht nur im Moment nicht, sondern auch in gesamten seinem Erleben, nicht alleine war.

 

Warum auch immer, er hörte mir zu und fing an, ohne meine erneute Nachfrage, ob ich ihn nach seinen Gründen befragen dürfe, seine Motive zu erklären. Bis zu diesem Zeitpunkt waren gefühlt, Stunden, aber in der Realität nicht mehr als fünf, sechs, oder vielleicht sieben Minuten vergangen. Zum ersten Mal verspürte ich Erleichterung.

 

Auf keinen Fall wolle er zurück in den Knast, erklärte er mir. Ich hakte nach, warum das denn auf ihn warte. In einem verzweifelten Tonfall beschrieb er mir, es läge eine Anzeige wegen einer Vergewaltigung vor und die Polizei suche nach ihm. Dabei sei er  vollkommen unschuldig. Ohne eine Ahnung von den genauen Umständen zu haben, stocherte ich herum und meinte lapidar, da würde sich doch bestimmt etwas machen lassen, dass er nicht in den Bau müsse. Einen Gedanken an das eventuelle Opfer seiner Tat – das gebe ich zu- verschwendete ich nicht. Wiederum wurde ich verwundert angesehen. Doch das währte nur kurz, denn seine feste Überzeugung war die Unumgänglichkeit der Inhaftierung. Ich bot ihm an, ihm den besten Anwalt zu besorgen, der sich mit diesem Thema beschäftige. Wiederum hatte ich die falsche Schaltstelle getroffen, denn er begann wieder, recht seltsam, seine „Nein“-Rufe Richtung Himmel zu schleudern. „Wie ist es denn im Bau?“, fragte ich ihn und sagte ihm, dass ich es mir nicht vorstellen könne, dass das ein Grund sein könne, Schluss machen zu wollen. „Erkläre es mir!“, forderte ich ihn auf. Darauf ging er nicht ein. Immer wieder beschwor er seine Unschuld und er würde sich auf keinen Fall nochmals einsperren lassen. Langsam aber sicher merkte ich, wie sich mein Argumentationskatalog aufbrauchte. In diesen Augenblicken, in denen seine Aufgeregtheit eine erneute Ansprache kaum möglich machte, war es momentan eher richtig, zu schweigen. Und die Frage, die ich zuvor an ihn gerichtet hatte, das wurde mir erst dann bewusst, war offenbar äußerst ungeschickt. Ihn in seiner Phantasie ins Gefängnis zurückzuführen war genau genommen, das Schrecklichste, was ich hatte machen können. Schließlich war diese Vorstellung mit einer Empfindung von Leiden verbunden, das er mit dem ultimativsten Mittel zu vermeiden suchte. Meine Strategie, mich auf positive Gedanken zu konzentrieren, hatte ich verlassen. Ich ärgerte mich über diese enorme Fehlleistung. Alles, was zuvor erreicht war, geriet wieder ins Wanken und es bestand die Gefahr, ihn mit meiner Frage in seinem ursprünglichen Entschluss bestärkt zu haben.

 

Allzu viel argumentatives Vakuum durfte daher nicht entstehen. Aus dem Zusammenhang gerissen, sagte ich ihm: „Du wirst noch gebraucht“. Auch diese Behauptung barg das Risiko, einen sehr wunden Punkt zu treffen. Der heftige Themenwechsel führte aber dann doch zu dem bezweckten Bruch seiner zermürbenden Vorstellung. Es schien, als dachte er darüber nach, wie ich dazu kam, einfach solches festzustellen. Er ließ mich bei der Frage, ob ich eine weitere Wunde aufgerissen hatte, oder ob ich eine reale positive Perspektive getroffen hatte, im Unklaren. Aber die akute manische Phase war zumindest vorerst beendet. Vollkommen irritiert sah er mich an und raffte sich mit einer Verzögerung von fast einer Minute zu der Nachfrage auf: „Wer denn?“ Seine Worte verrieten mir, dass er aus eigenem Antrieb niemanden ausfindig machen konnte, auf den das zutraf, was ich unterstellte. Das war kein wirklich positives Signal, aber vorerst hatte ich die zuvor gemachte Fehlleistung wettgemacht. Nun galt es, die vorgebrachte positive Perspektive überzeugend mit Inhalt zu füllen. „Ich kenne Deine Verhältnisse ja noch nicht“, wandte ich ein. Diese Bemerkung diente einzig und allein dazu, etwas Zeit zu gewinnen. „Hast du eine Freundin“, fragte ich ihn und bei der Fragestellung war mir nicht wirklich wohl. Angesichts dessen, was er als Grund für seine Probleme ansah, war das Thema „Frau“ eher nicht günstig. Doch es war das erste, was mir einfiel. Dann, ohne eine Antwort abzuwarten, ergänzte ich: „Und was ist mit Deinen Eltern“. Auch die Erwähnung dieser barg das Risiko, daneben zu liegen. Vielleicht lebten die Eltern nicht mehr, vielleicht hatten sie ihn in seiner Kindheit vernachlässigt oder gar gequält. Vielleicht hatten sich die Eltern wegen seiner Art, oder wegen seines Lebenswandels von ihm abgewandt. Allem Anschein nach hatte ich aber Glück.

 

Sein Gesicht hellte sich etwas auf. Aber auch darauf ging er nicht ein. Das war eine günstige Gelegenheit, nachzulegen. In der Zwischenzeit war mir etwas eingefallen, das mit absoluter Sicherheit nicht negativ besetzt sein konnte. Vielleicht hatte ich zwar schon eine positiv besetzte Verbindung in Erinnerung gerufen, aber es war auf jeden Fall nicht schlecht, dem noch etwas beizufügen. Deshalb erklärte ich ihm, gleichgültig was jetzt gelten würde, er könne doch einfach nicht wissen, welchen Menschen er noch begegnen würde. „Da gibt es so viele, die es gut mit Dir meinen werden. Soviel ist sicher!“, bekräftigte ich diese Fiktion. Das, was noch nicht eingetroffen war, konnte von ihm nicht widerlegt werden. Es ging mir durch den Kopf, ob ich vielleicht auch noch seinen besten Schulfreund in Erinnerung rufen sollte, doch ihn behielt ich in der gedanklichen Hinterhand, für den Fall, dass die Begegnung wieder in die falsche Richtung gehen sollte.

 

So wie es aussah, war Ruhe eingekehrt. Deshalb bekam ich eine Chance davon zu erzählen, wie sich für mich eine Ankündigung eines Menschen, der sehr wichtig werden würde, innerhalb kürzester Zeit bewahrheitet hatte. Damit hatte ich ihn endgültig aus der Gefängniszelle entführt und meine eigene Panik löste sich. Ich dachte darüber nach, ob es vielleicht nicht einmal so schlecht gewesen war, ihn nach den Verhältnissen der Inhaftierung gefragt zu haben. Schließlich hatte ich damit Interesse an dem gezeigt, was ihn belastete. Ich nahm Anteil an seinem Leben. Ich gewann damit vielleicht sogar an Vertrauen.

 

Noch immer herrschte ein enormes Defizit an Informationen. Doch konnte ich kaum mehr an Auskünften bekommen, ohne mich auf’s Glatteis zu begeben. Vertrauen entgegengebracht zu bekommen, war dann schon sehr viel. Dann schoss es mir durch den Kopf: „Normalität herstellen!!!!“ Aufgefallen waren mir die Utensilien, die sich in den Brusttaschen seiner Jeanjacke befanden. Neben einer Bürste, die mit ihrem Stiel herausragte, konnte ich ein Päckchen Tabak sehen. Nicht nur ich, sondern auch er war also ein Raucher. Man kann über das Rauchen sagen, was man will, doch für einen Raucher stellt der Genuss einer Zigarette eine Möglichkeit dar, sich zu beruhigen. Das Absinken des Nikotinpegels bewirkt hingegen das Gegenteil. Die Beruhigung herbeizuführen, in Verbindung mit etwas, was für ihn Normalität darstellte, erschien mir als kongenial. Deshalb bot ich ihm eine meiner Zigaretten an. Abschätzig blickte er auf meine Schachtel und kam zu dem Schluss, dass ihm dieses Kraut nicht schmecken würde. Für einen Moment verspürte ich eine Enttäuschung, war dann aber umso erfreuter, als er mir sagte, er würde sich lieber selbst eine Zigarette drehen. Bei der ungünstigen Position, bei der er sich am Geländer festzuhalten hatte, um nicht herabzustürzen, fragte ich ihn, ob ich die Anfertigung übernehmen solle. „Nee, ich mach schon“, antwortete er mir. Da ich selbst mit dem Drehen von Zigaretten keine Erfahrungen hatte, war mir etwas leichter. Dann fiel mir ein, dass ich ihn mit meiner Ungeschicklichkeit, bestimmt zum Lachen gebracht hätte. Doch diese Option war bereits vorüber und er begann, an seinen Jackentaschen herumzunesteln. Jeweils immer nur mit einer Hand am Geländer, brachte er alles zusammen, was er für sein Werk benötigte. Doch als es um das Drehen der Zigarette ging, benötigte er dafür beide Hände. So lehnte er sich mit seinem Oberköper nach vorne übers Geländer und stützte sich nur mit den Unterarmen auf den Handlauf. Dieser Anblick ließ mich mulmig werden. Er behielt zwar das Gleichgewicht, doch die Angelegenheit war sehr fragil.

 

Ohne ausführlich darüber nachzudenken, sagte ich ihm: „Ich halte Dich solange fest.“ Zeitgleich machte ich noch die beiden Schritte, die mir fehlten, erstmalig einen physischen Kontakt herzustellen zu können. Ich behielt seine Miene dabei im Auge und fürchtete, er würde mich zurückweisen. Günstig, so schien es mir, war der Umstand, dass ich nicht frontal auf ihn zuging, sondern ein klein wenig seitlich versetzt. Aus heutiger Sicht muss ich davon ausgehen, dass diese diagonale Position eine, wenn nicht die bestimmende Voraussetzung dafür war, dass er mich gewähren ließ. Ich legte meine Hand auf seine Schulter und übte keinen besonderen Druck aus. Er selbst konnte davon ausgehen, dass es mir mit dieser Handlung nicht gelingen würde, ihn mit Gewalt über das Geländer zu schaffen. Viel zu tief war sein Schwerpunkt. Der Handlauf reichte ihm bis zum Brustkorb. Während ich ihm davon erzählte, dass ich das Rauchen wohl niemals drangeben würde, drehte er in aller Seelenruhe seine Zigarette, ohne mich nochmals anzusehen. Ich hatte nun das Gefühl, dass meine Stützfunktion durchaus mit Wohlwollen entgegengenommen wurde. Während er seine Verrichtungen mit zitternden Händen vollführte, begann ich, mich in den Stoff seiner Jacke zu verkrallen. Eine hilflose Geste, so dachte ich bei mir, denn nie und nimmer würde es mir gelingen, ihn festzuhalten, würde er nun tatsächlich, beabsichtigt, oder nicht, hinabstürzen. Ich lockerte ein wenig den Griff, denn es war nicht meine Absicht, dass er sich von mir bedrängt fühlte. Die Möglichkeit, erneut, kräftig zuzupacken, behielt ich jedoch bei.

 

Da ich ihm nun sehr nahe stand, und er bei der Anfertigung seiner Zigarette und beim Rauchen seine Arme in einer Weise anhob, dass ich Gelegenheit bekam, die Unterseiten seiner Unterarme zu sehen, konnte ich feststellen, dass er sich an seinen Pulsadern zu schaffen gemacht hatte. Seine Handfesseln waren an beiden Armen blutverschmiert. Der Verkrustung nach konnte das noch nicht allzu lange her gewesen sein. Also hatte er nicht nur den Sprung von der Brücke als Lösung angesehen. Vermutlich war es wohl am Morgen gewesen, so mutmaßte ich, dass er bei diesem ersten Suizidversuch des Tages gescheitert war. Ich sprach ihn nicht darauf an. Vielmehr plauderte ich darüber, wie sehr mir andere Leute mit ihrem Nichtraucherwahn auf den Geist gingen,

 

Zum ersten Mal pflichtete er mir bei. Wieder einmal hatte ich einen kleinen Gewinn. Meine Annäherung war nicht nur räumlich gelungen, sondern drückte sich auch mit der Zustimmung, in einer Geste der Sympathie aus. Ich stand nicht nur ganz nah bei ihm und hielt ihn fest, ich stand nun auch direkt am Geländer.

 

In dieser Zeit fast kontemplativen Ruhe, die vom Inhalieren des Zigarettenrauchs herrührte, ergab sich für mich die Möglichkeit, nach unter auf den Fluss zu blicken. Dort sah ich einen Schubverband, der stromaufwärts fahrend, sich etwa zur Hälfte unter der Brücke befand. Nur noch das Heck, das immer weiter unter uns verschwand, war noch in meinem Blickfeld. In der Gegenrichtung entfernten sich zwei andere Binnenschiffe, die die Brücke bereits vor Minuten passiert hatten. Wenn das darauf befindliche Personal nicht gerade nach oben und hinten gesehen hatte, so war diesen Leuten kaum vorzuwerfen, nichts von den Geschehnissen mitbekommen und deshalb keine Hilfe gerufen zu haben. Anders sah es jedoch mit dem Kapitän des Schiffes aus, das sich gerade soeben unter uns befand. Es war im Grunde unmöglich, dass man die beiden Leute dort oben auf der Brücke übersehen hatte. In größerer Entfernung, etwa in einer Distanz von 2 Kilometern, bewegte sich einen Freizeitskipper auf einem Kajütboot, der in unsere Richtung hielt. Auch er würde uns beide zwangsläufig sehen müssen und ich sehnte ihn herbei.

 

Was sich währenddessen hinter meinem Rücken abspielte, konnte ich war nicht sehen, aber deutlich hören. Unzählige Autos fuhren an uns vorüber und kein einziger Fahrer hatte offenbar angehalten, denn noch immer waren wir allein. Die Anzahl der Leute, die an uns vorbeigefahren waren, ging in die Hunderte, denn seit meinem Einsatz war längst eine halbe Stunde vergangen und die Hoffnung, ein erleuchteter Helfer mit einem Patentrezept würde mir zur Hilfe kommen, hatte sich nicht erfüllt. Nicht einmal ein ähnlich ratloser Mensch gesellte sich hinzu. Der Grund für das vermeindliche Desinteresse der Autofahrer war mir andererseits aber auch bewusst. Die Streben, auf denen das Geländer ruhte, gaben die Sicht auf mein Gegenüber nur einen sehr kurzen Augenblick frei. Solange man sich nicht fast auf gleicher Höhe mit uns befand, war zumindest der Unterkörper des jungen Mannes für Vorbeifahrende unsichtbar. Die senkrechten Streben verbanden sich aus einer versetzten Draufsicht, optisch zu einer einheitlichen und undurchsichtigen Metallwand. Nur das Oberteil, der Brustkorb und der Kopf dieses Menschen waren zu erkennen und das auch nur dann, wenn er nicht in die Hocke ging und damit für andere fast unsichtbar abtauchte. In dieser Haltung, bei der er sich an die senkrechten Streben klammerte, hatten wir uns beim ersten Vis-á-Vis durch das Gatter angesehen und immer wieder hatte er diesen Wechsel seiner Körperhaltung in dieser Zeit vollzogen. Solange er sich in dieser Position befand, musste sich die Szene für die Vorbeifahrenden so dargestellt haben, dass ein grauhaariger Mann, in einer etwas ungewöhnlichen Haltung, interessiert den Blick auf den Rhein genoss. Bei dem auf der Brücke gefahrenen Tempo konnten die Autofahrer nur für den Bruchteil einer Sekunde einen Blick auf den Mann werfen, der sich jenseits des Geländers befand. Lediglich die Hände, die sich an den Streben festhielten, waren dauerhaft sichtbar. Aber was war mit den Radlern und den Fußgängern, die mit großer Wahrscheinlichkeit auf dem gegenüberliegenden Rad- und Gehweg die Brücke überquerten haben mussten? Hatten sie sich teilnahmslos gezeigt?  Oder war es wirklich so, dass von diesen niemand entlang gekommen war? Was die Seite der Brücke anbetraf, auf der wir uns befanden, war das so. Kurz, bevor ich die Brücke erreicht hatte, hatten mich zwei andere Radler bei meinem gemächlichen Tempo überholt und sie waren vor mir bei der Brücke angekommen. Sie überquerten die Brücke, ohne sich um den disparaten Mann zu kümmern. Achtlos waren sie an ihm vorüber gefahren, als er noch auf der Leitplanke saß. Das lag also bereits über eine halbe Stunde zurück und kein Einziger anderer Passant hatte sich innerhalb dieses ewig anmutenden Zeitraums den Weg benutzt, der mich hierher geführt hatte.

 

Verwundert stellte ich fest, dass erst ab dem Zeitpunkt, ab dem ich auf den Rhein sehen konnte, sich bei mir Hoffnung auf Unterstützung eingestellt hatte. Bis zu diesem Moment war dieser Gedankengang vollkommen fremd, aber der Anblick des Bootes mit seinem Freizeitkapitän holte diese Möglichkeit in mein Bewusstsein. Ich kann heute nicht mehr mit Bestimmtheit sagen, was das Ausblenden dieses doch eigentlich selbstverständlichen Empfindens verursachte.

 

Vollkommen grotesk erscheint mir aus heutiger Sicht, dass ich mit Auftauchen des Gedankens an Hilfe begann, mir Gedanken über mich selbst zu machen. Was war es nur, dass mir solches nicht in den Sinn kam? Da stand mir also jemand gegenüber, der sich das Leben nehmen wollte und ich reflektierte über mich selbst. Fragen, die ich an mich selbst richte, verlangen unabdingbar nach Antworten und so war es auch in diesen Momenten. Mit der Überlegung, es müsse mit meiner Art zusammenhängen, mit Problemen umzugehen, kam ich zu einem vorläufigen Ergebnis, ohne auf die sich darauf aufbauenden Fragen einzugehen. Probleme löste ich üblicherweise alleine. Auf fremde Hilfe zu vertrauen, hatte ich zwar nicht verlernt, doch verzichtete ich im Allgemeinen darauf. Nur dann, wenn es unumgänglich war, wenn ich beispielsweise einen Schrank zu transportieren hatte, nahm ich die Hilfe anderer in Anspruch.

 

Gebannt sah ich auf das Bötchen hinunter, das sich in unerträglicher Langsamkeit der Brücke näherte. Als dieses Boot nur noch wenige Meter entfernt war, erkannte ich, wie der Mann am Steuer hinaufschaute. Ungerührt setzte er seine Fahrt fort und ich verstand nicht. Das konnte doch einfach nicht wahr sein! Ohne sichtbare Konsequenzen schipperte er weiter. Nach meinen Vorstellungen hätte er doch versuchen müssen, in der Nähe der Stelle zu kreuzen, an der der Mann, der hinunter springen wollte. Wenn es zum buchstäblichen Fall der Fälle gekommen wäre, hätte er doch in erreichbarer Nähe sein müssen, um gegebenenfalls diesen Menschen aus dem Wasser zu ziehen. Doch weg war er! Einfach weg.

 

Das brachte mich zu meiner Aufgabe zurück. Eine zweite Zigarette, die er sich gedreht hatte, war aufgeraucht, der Stummel nach hinten in den Fluss geworfen. Es ist wohl etwas, das nur mir vorbehalten ist, dachte ich mir und ich beschloss, mich auf meine eigenen Möglichkeiten zu besinnen. Die sonderliche Unterhaltung war erlahmt. Deshalb sagte ich in einem Anfall gefühlter Stärke zu ihm, ich reiche ihm nun meine Hand. Verbunden war damit die Hoffnung, er würde diese Hand als Hilfe dazu nutzen, das Geländer zu überqueren, um mit ihrer Hilfe zurück ins Leben zu kommen. Erst als mein Gegenüber ohne Verzögerung zugriff, kam mir die direkte Art zu Bewusstsein, die ich an den Tag gelegt hatte. Und mehr noch, das Erstaunen über die unbefangene Art, wie er nach meinem Handgelenk griff, war ungeheuerlich. So hielt ich sein blutverschmiertes Handgelenk fest, wie er meines ergriff und es hatte den Anschein, als habe diese Geschichte nun ihre glückliche Wendung genommen. Erleichterung machte sich breit, wurde aber innerhalb kürzester Zeit zunichte gemacht.

 

Seine Reaktion war vollkommen anders, als ich geglaubt hatte. Er bewegte sich keineswegs in Richtung Geländer. Er ließ sich von mir nicht bei der Überwindung des Hindernisses helfen, sondern ganz im Gegenteil! Er lehnte sich weit zurück und in seiner Schräglage schwebte er über dem Abgrund. Mit seinem Gewicht zog er mich in seine Richtung und ich wurde gegen das Geländer gepresst. Ich rang nach Luft. Weniger der Druck auf das Gatter, als die Überraschung, ließ mich atemlos werden. Das war bis zu diesem Zeitpunkt die gefährlichste Situation und die, von der ich am ehesten annahm, ein übles Ende stünde bevor. In dieser Konstellation verharrten wir nun eine oder zwei Minuten und mit einiger Genugtuung stellte ich spät fest, wie fest er mein Handgelenk umklammerte. Ich bemerkte dabei auch das Beben in seinem Körper, das mir die Angst verriet, die er in sich trug. Das alles war kein Beleg dafür, dass er nicht loslassen würde, deutete es jedoch so. Und immerhin hielt ich ihn ja auch fest. Mir war klar, dass die Achterbahn an Gefühlen für mich noch nicht zu Ende sein würde und wartete nun auf eine erneute Entspannung. Sie ließ auf sich warten, aber die Verhältnisse waren einigermaßen stabil, wenn auch nicht gerade günstig. Meine Hoffnungen darauf, er würde sich besinnen und eine günstigere Richtung in der Entwicklung würde folgen, wurde jäh zerstört.

 

Während er sich weiter an meinem Handgelenk festhielt, löste er seine andere Hand vom Geländer. Nur noch von seinen Fußspitzen auf dem Beton der Brücke gestützt und von unseren gegenseitigen Umklammerungen der Handgelenke gehalten, begab er sich in eine reale unmittelbare Gefahr. Ich sagte zu mir mit der lautesten innere Stimme, die mir zur Verfügung stand, ich hätte Ruhe zu bewahren. Der Zug, der auf meinen Arm ausgeübt wurde, war enorm. Doch ich ließ es mir, soweit ich das konnte, nicht anmerken. Ich sagte nichts.

 

Ich sah mir die von uns geschlossene Verbindung an und anschließend blickte ich direkt in sein Gesicht. Doch er sah nicht mich an, sondern auf unsere Arme. Erst als ich mit einer vollkommenen Ruhe äußerte, ich würde ihn festhalten, da könne kommen, was wolle, änderte er seine Blickrichtung und sah mir in die Augen. Tränen waren in den seinigen aufgetaucht. Das beruhigte mich mehr, als es beunruhigte. Bislang hatte er nicht geweint. Doch nun hatte er wohl erstmalig Mitleid mit sich selbst. Das gab mir etwas Zuversicht, auch wenn es objektiv die  die übelste der bislang aufgetretenen Situationen war. Die Tränen, die ich entdeckt hatte, rollten nicht die Wangen herunter, sondern verharrten in seinen Augenwinkeln und glitzerten (ich weiß, wie pathetisch das klingt) wie Diamanten im Sonnenlicht. Noch einmal sagte ich ihm, ich ließe ihn nicht los und lächelte ihn so an, so gut ich konnte. Doch nach lächeln war mir wirklich nicht zumute. Seine Tränen rührten mich. Mir war ebenfalls zum heulen. Wie mein Lächeln ausgesehen hat, mag ich mir heute kaum vorstellen.

 

Unser Aufeinandertreffen hatte die Züge einer griechischen Tragödie angenommen. Bis zum Anschlag war ich an das Geländer gezogen. Eine Möglichkeit, aus meiner Position heraus diesen Mann, der ein Kopf größer war, als ich, heranzuzerren, bestand für mich nicht. Ich hatte keinen Bewegungsspielraum. Es gab keinen Ansatz, mich gegen den Zug zu stützen. Nur ausharren konnte ich. In dieser Haltung war ich nun Herr über Leben und Tod. Würde ich loslassen, das gehört für mich zu meinen unumstößlichen Wahrheiten, so würde er es mir gleichtun. Er sah nochmals auf die Verbindung, die unsere Handgelenke eingegangen waren und langsam sah er danach zu mir hinauf. Seine Mimik zeigte nun ebenfalls ein seltsames Lächeln. Diesen Anblick werde ich wohl mein ganzes Leben lang nicht vergessen. Es war ein verzogenes Gesicht. Die Mundwinkel nach unten gerichtet, zeigten die Spitzen der Mundwinkel dagegen nach oben. Die Augen, die zugleich Verzweifelung und Hoffnung, Verwunderung, Dankbarkeit, Vertrauen und Frieden andeuteten, wurden von kleinen Lachfältchen eingerahmt, die zuvor nicht da gewesen waren. Damit wurde mir äußerst komisch zumute. Für etliche Augenblicke war es zweifellos eine diabolische Mimik.

 

Er trieb ein Spiel mit mir. Ein perfides Spiel um Leben und Tod. Ich sollte sein Schicksal spielen. Die Spielregeln bestimmte er und ich hatte mich zu bewähren. Versagte ich, so war das in letzter Konsequenz das Ende für ihn. Er selbst brauchte den finalen Entschluss, vor dem er bis zu diesem Augenblick zurückgewichen war, nicht zu fassen. Ich sollte für ihn entscheiden. Und ausgerechnet ich war es gewesen, der ihn durch die Darreichung meiner Hand, die Gelegenheit zu diesem Schicksalsspiel verschafft hatte.

 

Weniger die Position, als sein Gesichtsausdruck ließen erstmalig wirkliche Angst aufkommen. Ging es bei dieser Geschichte weniger um ihn, als um mich? Von den Knien ausgehend, kroch in mir die Angst nach oben. Es war eine Angst, die sich nicht nur ihm ihn, sondern auch um mich drehte. Ich konnte ihn  aus dieser Haltung nicht zu mir hinüberziehen. Er, mit seinem größeren Gewicht mich aber vielleicht schon. Bis zum Anschlag lag mein Brustkorb seitlich am Geländer an und meine Schulter reichte bereits halb hinüber. Er hielt mich ebenso fest, wie ich ihn und sollte er abrutschen, zöge er mich dann mit in den Abgrund? Sollte ich mit zugrunde gehen? Würde er, um seinen Plan umzusetzen, es in Kauf nehmen, mich mit hinunterzureißen? Wäre es sogar Absicht? War es gar mein eigener Schicksalsplan? Ob Sturz oder Sprung, ich hatte nicht die Sicherheit, ob die Positionen, die wir einnahmen, es verhinderten, dass er mich mit hinunterzöge. War ich an diesem sonnigen Samstagnachmittag auf meinen persönlichen Mephistos getroffen?

 

„Bitte!“, sagte ich und nannte ihn bei seinem Vornamen. „Du bist schwer“, gab ich kleinlaut bei. Es klang wohl nun bei mir Verzweiflung durch und es zeigte Wirkung  Er zog sich zwar nicht mit meiner Hilfe zum Geländer zurück, ging aber dafür in die Knie. Dadurch ließ die Zugbelastung gravierend nach. Die Hebelwirkung der Schwerkraft lag höchstens noch bei einem Viertel. Und dann langte er mit seiner freien Hand zum Geländer, um sich selbst wieder festzuhalten. Einige Sekunden verharrte er so und ließ dabei auch meine Hand nicht los. Anschließend richtete er sich auf. Was dann geschah, ließ mich so sehr staunen, wie noch nie zuvor in meinem Dasein. Ich hatte ihm auf eine indirekte Weise geschworen, ihn nicht mehr loszulassen. Doch mit einer absolut einfachen Bewegung drehte er seinen Arm aus meiner Umklammerung. Niemals hätte ich geglaubt, dass es so leicht sein würde, mich und meinen Griff abzuschütteln. Wie auch immer, seine Hand, die er von der meinigen befreit hatte, nutzte er nun, um sich auch damit an den Streben des Geländers festzuhalten. Dann richtete er sich auf.

 

Was dann folgte, war das Poltern der Steine, die von meinem Herzen fielen. Die Zuspitzung der Geschehnisse hatte sich aufgelöst und mein Gegenüber legte damit los, sich routiniert eine neue Zigarette anzufertigen. In der schon bekannten fragilen und ungesicherten Haltung, mit den Armen auf dem Geländer aufgestützt, schien für ihn das nun das Normalste zu sein, was man auf dieser Welt tun konnte. Mir selbst hatte es die Worte verschlagen und meine Achselhöhle schmerzte. Mit einer bis dahin bei ihm noch nicht beobachteten Regsamkeit und Aufmerksamkeit sah er sich anschließend um. Er betrachtete die Autos, die an uns vorbeifuhren. Er blickte sich um und schien nun vollkommen beruhigt. Da mein Nervenkostüm dagegen doch mächtig gelitten und ich ihn nicht mehr in meinem Klammergriff hatte, gab ich preis, dass ich selbst eine rauchen wollte. Regelrecht umgehauen hat mich dann sein Angebot, mir auch eine Selbstgedrehte anzufertigen.

 

Der Wechsel war zu krass. Mir war überhaupt nicht nach einer von ihm angefertigten Zigarette, mir war danach, ihn in diesem Moment zu ohrfeigen. Doch schnell wurde mir klar, wie unangebracht diese Regung war. Ganz anders sollte meine Emotionen aussehen. Freude, vielleicht sogar Glück sollte ich – zumindest für den Moment – empfinden. Jetzt dachte er nicht an sein Ende. Dankbarkeit hätte ich überzeugend zeigen sollen. Er dachte nicht an sich und sein Vorhaben, sondern an mich und meine vielleicht vorhandenen Wünsche. Es mochte sogar sein, er wollte mit seinem Angebot seine eigene Dankbarkeit zum Ausdruck bringen. Die Spannung, die riesige Anspannung, hatte sich gelockert und es gab Anzeichen dafür, dass sich das Problem würde lösen lassen. Soviel war sicher, jetzt würde er nicht springen. Allenfalls ein Ausrutschen lag noch im Bereich der Möglichkeiten. Daher raffte ich mich innerlich wieder auf und machte die bereits bekannten Schritte auf ihn zu, um ihn von hinten abzustützen. Dieses Mal verzichtete ich auf meine Vorankündigung und wie selbstverständlich ließ er es geschehen. Noch einmal blickte er nach unten auf das Wasser, als seine Zigarette angezündet war. Das Gespräch wieder in Gang zu bringen, dazu fühlte ich mich nicht in der Lage. Doch das brauchte ich auch nicht, denn er wandte sich an mich mit einer Frage. „Meinst Du, die Höhe reicht?“, wollte er von mir wissen. Vollkommen verunsichert gab ich ihm nur die unbestimmte Antwort, dass ich das nicht wissen würde. Andererseits wurde meine Erleichterung etwas größer. Zweifel waren ihm gekommen. Zweifel waren gut. Sich nicht sicher sein zu können, den finalen Plan mit dem beabsichtigten Ergebnis umsetzen zu können, behinderte auf jeden Fall die Entscheidung. Dies konkrete Frage über die Fallhöhe zeigte noch etwas anderes: Er traute mir eine Antwort auf eine Frage zu, die ihm wichtig war. Mir solche Kompetenzen zuzubilligen, sprach für mich und meinen Einfluss, den ich ausgeübt hatte und ausüben würde. Aber die Antwort blieb ich ihm schuldig.

 

Selbstverständlich gelang es den Klippenspringern in Accapulco, unbeschadet aus einer vergleichbaren Höhe unverletzt ins Wasser zu springen. Doch dazu bedurfte es schon entsprechender Fähigkeiten, die jener hier bestimmt nicht besaß. Es kam bei der geschätzten Höhe von dreißig, vielleicht vierzig Metern schon darauf an, mit möglichst geringem Widerstand einzutauchen. Viel wahrscheinlicher war es, dass man als ungeübter Springer aufschlug, wie auf eine Betonplatte. Ob man dabei unmittelbar zu Tode kommen würde, wusste ich nicht mit Sicherheit, wusste aber, dass es aller Wahrscheinlichkeit ausreichte. Auch vorher schon, bevor er mich nach den Überlebenschancen oder nach den Chancen, sich erfolgreich damit umzubringen, gefragt hatte, erinnerte ich mich an einen Bekannten, der von einer Brücke, die nur etwa vier Kilometer stromaufwärts den Rhein überspannte, gesprungen war. Eine Krebsdiagnose hatte ihn sehr konsequent handeln lassen und war mit seiner Tat gewissermaßen erfolgreich. Ob es dann dabei das Ertrinken, oder der Aufprall war, darüber hatte ich mir noch nie überlegt, denn es war für mich unerheblich. Dieser Bekannte kam mir wieder in den Sinn und die Trauer und das Entsetzen über die Botschaft seines Todes. Auf die Frage meines Gegenübers nun, wollte ich keine Antwort geben, denn es machte sich langsam der Gedanke bei mir breit, dass ich mit dem, was ich sagte, nicht wirklich etwas in die Richtung lenken konnte, die ich beabsichtigte. Erst später, viel später, erst nachdem die gesamte Geschichte überstanden war, ging mir auf, was ich hätte sagen können.

 

Es wäre ein Szenario gewesen, was ihn doch mit einer großen Wahrscheinlichkeit beeindruckt hätte. Außerdem wäre es plausibel gewesen und dürfte der Wirklichkeit entsprechen. So hätte ich erzählen können, dass der Aufprall nicht zwangsläufig mit dem Tod zusammenfiel. Viel wahrscheinlicher war es, dass es nur zu heftigen Verletzungen, zu Knochenbrüchen kommen würde. Möglicherweise wäre das Bewusstsein dann immer noch vorhanden und dieses würde demjenigen, der gesprungen war, den Wunsch auftragen, sich doch noch zu retten. Doch gebrochene Arme oder Beine, ein gebrochenes Rückgrat, würden den bestimmt wieder aufflammenden Überlebenswunsch zunichte machen. Elend müsste man als Betroffener zur Kenntnis nehmen, nichts mehr ausrichten zu können und gegen seinen Willen absaufen. Das alles sagte ich ihm nicht. Es war mir in diesen Momenten nicht präsent. Ich sagte ihm nichts davon, dass die Möglichkeit, sich durch einen Sprung umzubringen, sehr wahrscheinlich war. Ich sagte ihm auch nicht, dass es nicht gelingen würde. Ohne zu wissen, welche der Antworten ihn vom Sprung abhalten würde, war es besser, sich ahnungslos zu geben. Interessiert warf ich einen Blick über das Geländer, um die Höhe nochmals abzuschätzen. Dabei kam ich auch zu einem recht zuverlässigen Ergebnis, fragte aber nun meinerseits, was er denn glauben würde. Als er nach unten sah, um sich ein Bild von der Höhe zu  machen, nahm ich die Gelegenheit wahr, erstmalig den Fokus von ihm abzuwenden. Als ich nach hinten blickte, sah ich einen PKW-Fahrer, der auf der anderen Seite der Brücke angehalten hatte. Die Türe hatte er sogar geöffnet. Auch ein Fahrradfahrer näherte sich. Er kam aus der Richtung, in die ich eigentlich fahren wollte, in die ich nun schon seit etwa fünfzig Minuten nicht weiter gefahren war. Der Radler hielt an.

 

Etwa fünf Meter von uns entfernt stellte er sein Rad ab. Vorsichtig näherte er sich uns beiden. Die Ratlosigkeit war ihm sofort ins Gesicht geschrieben. Mit großen Augen blickte er mich an, so als erhoffe er sich von mir die Auskunft, dass ich es bereits geschafft habe, diesen Menschen von seinem Vorhaben abzubringen.             

                

Mir selbst war wiederum nicht ganz wohl. Eine weitere Hilfe war zwar eingetroffen und das brachte es mit sich, dass ich mich nicht mehr alleine in der Verantwortung sah. Es war jedoch absolut nicht klar, wie dieser verzweifelte Mann auf den Neuankömmling reagieren würde. Mit Sorge betrachtete ich daher das Näherkommen und die Reaktionen darauf. Ganz ruhig und besonnen trat mein Helfer an meine Seite und er vermied es, allzu nahe ans Geländer zu treten. Auch er fragte mein Gegenüber nicht, was denn los sei. „Wie können wir Dir helfen?“, richtete er sich an den Mann hinter dem Geländer. Ohne zu zögern schilderte jener, was seine Handlung ausgelöst hatte. Wiederum beschwor er den Eid, den er sich selbst gegeben hatte, nicht mehr in den Knast zu gehen. Außerdem betonte er so intensiv wie nie zuvor, dass er unschuldig sei. Man habe auch nichts gegen ihn in der Hand, bis auf die Aussage dieser Frau. Diese Auskunft war mir neu. Sie hätte vielleicht einen Ansatz geboten, ihn von seinen Sorgen und Nöten zu befreien. Wie auch immer, in einer wesentlich unaufgeregteren Weise als zuvor, sprach er mit dem Radler, der von ihm wissen wollte, ob er gläubig sei.

 

Diesen Aspekt hatte ich während unserer Begegnung vollkommen ausgelassen. Der Grund dafür bestand mit Sicherheit nicht darin, dass ich ihn für ungeeignet gehalten hatte. Nein, ich hatte einfach nicht daran gedacht. Diese Vorstellungswelt, die Glaubensfragen sind mir üblicherweise sehr präsent. Doch in dieser Zeit von fast einer Stunde kam ich einfach nicht darauf. Für mich als christlich erzogener Mensch, hätte sich der Gedanke an die Religion von alleine einstellen müssen. Nicht selten ging ich auch aus religiöser Sicht, selbst der Sinnfrage nach. Doch in dieser Stunde kam es nicht dazu. Wiederum dachte ich mehr über mich selbst als über den potentiellen Selbstmörder nach. Viel zu groß war das Erstaunen über meine eigene Unterlassung, als dass ich über das eigentliche Problem, das unübersehbar vor mir stand, hatte überlegen können.

 

Dieser etwa Vierzigjährige, dem Aussehen nach türkischer Herkunft, wies vielleicht eine größere innere Nähe zu dem Thema auf, als ich. Eine größere Glaubenspraxis zu besitzen, als ich, stellte kein großes Wunder dar. Abgesehen von einer Kommunion, der ich vor Jahren beigewohnt hatte, hatte ich an keinem Gottesdienst mehr teilgenommen. Anders sah es vermutlich bei meinem Helfer aus, der ohne jegliches Zögern auf diese wichtige Frage zu sprechen kam. Als Muslim, so sagte er, gehöre er zwar einer anderen Richtung an, er sei sich aber sicher, dass Muslime und Christen mehr verbinde, als trenne. Daher sei klar, dass man das Leben, das einem von Gott gegeben sei, nicht einfach hergeben dürfe. Da ich bemerken konnte, wie sich der junge Mann hinter dem Geländer auf dieses Thema einließ, hielt ich meinen Mund.

 

Merklich ruhig war es inzwischen hinter meinem Rücken geworden. Der Lärm von vorbeifahrenden Autos war verschwunden. Da ich nun nicht mehr der Einzige war, der sich dem Menschen widmete, der Hilfe benötigte, sah ich mich um. An dem Ende der Brücke, das ich in meinem Blickfeld hatte, standen zwei Polizeiwagen. Offensichtlich war die Brücke abgesperrt worden. Nur wenig später näherte sich aus der gleichen Richtung ein weiteres Polizeiauto. Angesichts der Angst unseres Protagonisten vor seiner Verhaftung, befürchtete ich eine Überreaktion. Doch diese blieb zuerst aus. Er reagiert zwar sichtlich nervös, aber abwartend. Ich überlegte, ob ich Zeichen geben sollte, nicht näher zu kommen, doch meine Beobachtung der Reaktionen führte dazu, nichts Derartiges zu versuchen.

 

Der Wagen, der ohne Blaulicht vorgefahren war, hielt in recht großer Entfernung und drei Beamte entstiegen ihm. Zwei Polizisten blieben am Wagen stehen und nur einer von ihnen kam zu uns herüber. Er nannte seinen Namen und stellte sich uns als Polizeipsychologe vor. Auch seine erste Frage war die, wie er helfen könne. Von der anderen Seite des Geländers bekam er darauf zu hören, dass er nicht näher kommen solle. Mit einigen hektischen Bewegungen versuchte der junge Mann die Distanz zu dem Beamten wieder zu vergrößern. Er hangelte sich am Geländer etwa zwei Meter entlang und seine Hektik ließ das recht ungelenk erscheinen. Die Rufe, nicht näher zu kommen und insbesondere das Zurückweichen zeigten Wirkung. Ich dagegen fühlte mich verpflichtet, mich zu dem Mann zu gesellen, um eine Art von Verbundenheit mit ihm und eine Abgrenzung zur drohenden Staatsmacht zu demonstrieren. So trat ich zu ihm und nahm eine konfrontierende Haltung zum Polizisten ein.

 

Ob es nun diese Geste war, oder doch etwas anderes, augenblicklich stellte sich wieder etwas Ruhe ein. Aus der Entfernung von vielleicht fünf Metern sprach der Polizist nach wenigen Sekunden weiter und versicherte, es gäbe keinen Grund, sich über etwas Sorgen machen zu müssen. Er sei da, um zu helfen und er könne auch helfen. Ohne weitere Proteste hörte der Mann auf die außerordentlich freundliche Stimme. Die Situation erstarrte. Der Beamte versprach, er würde nichts unternehmen, das nicht gewünscht sei. „Wir belassen es jetzt so, wie es ist“, führte er aus.

 

Wenig später entwickelte sich dort, von woher der Polizeiwagen gekommen war, etwas Neues. Ich konnte sehen, dass zwei weitere Beamte vom Brückenkopf kommend, zu Fuß in unsere Richtung unterwegs waren. In ihrer Mitte lief eine weitere Person, die ich beim Näherkommen als eine dunkelhaarige Frau erkennen konnte. Das Geleit, das die beiden Polizisten boten, galt, so war mir recht schnell klar, der Freundin des Mannes, der nervös hinter dem Geländer abgetaucht war. „Da kommt jemand für Sie“, meinte der Polizeipsychologe und weckte damit tatsächlich die Neugier. Der Angesprochene richtete sich auf und erkannte seine Lebensgefährtin. Die darauf folgenden Ereignisse entwickelten sich so schnell, dass ich erst gar nicht zu der Überlegung kam, was dieses Wiedersehen bewirken könnte. Von weitem rief diese Frau unserem Problemfall zu: „Hey du Idiot, was machst du da wieder für eine Scheiße!“ Im selben Augenblick befand sich diese Frau im Zugriff der beiden Beamten, die sie an den Oberarmen festhaltend, postwendend zurückführten. Die Geschwindigkeit, mit der begriffen wurde, wie wenig hilfreich diese Person sein würde, war faszinierend. Gleichwohl rief der Mann hinter dem Geländer dieser Frau zu, er habe nichts gemacht. Ob es sich bei dieser Frau um die Person handelte, der er Gewalt angetan hatte, erschloss sich mir nicht wirklich. Doch angesichts der Beteuerung seiner Unschuld, die er ihr nachrief, war sie es wohl nicht, der er Gewalt angetan hatte, wenn er sich doch schuldig gemacht hatte. Klar war aber, wenn man die Lebensgefährtin ausgemacht hatte, dann wussten die Beamten, um wen es sich hier handelte.

 

Während seiner Unschuldsbeteuerungen näherten sich die beiden Polizisten, die bislang am Wagen ausgeharrt hatten. Das blieb nicht unentdeckt und wieder wurde die Szene unruhig. Wieder gab es ein Wegducken. Erst das Erstarren jeglicher Bewegung sorgte für eine kurze Beruhigung. Doch kurz darauf ergriff der Psychologe wieder das Wort. Er fragte nach dem Motiv. Und er bekam die bekannte Antwort. Ein klein wenig erstaunt sah der Beamte uns beide diesseitigen Zivilisten an, ohne uns anzusprechen. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, doch ich hatte den Eindruck, als bedeute er mir, mich dem Mann noch näher hinzuzugesellen. Während der Beamte versicherte, es bestünde kein Anlass, ihn zu verhaften, suchte ich die Nähe zu dem Nervenbündel, das sich im Zustand riesiger emotionaler Aufruhr befand. Doch nicht nur ich näherte mich ihm, sondern auch er sich mir. Dann sprach ich ihn an und meinte zu ihm, dass dieser Polizist auf mich einen sehr vertrauenswürdigen Eindruck machte. Erstaunlicherweise bekam ich darauf hin die Frage gestellt: „Meinst du wirklich?“.

 

Nachdem ich meine Meinung wiederholte, stieg er endlich über’s Geländer.

 

Während dieser Kletteraktion kam der Beamte näher und als ich sah, dass mein Gesellschafter der letzten Stunde sicheren Boden unter den Füßen hatte, musste ich tief durchatmen.

 

So drehte ich mich um und bemerkte nun das Näherkommen der anderen Polizisten. In einer aberwitzig schnellen Bewegung kletterte der soeben Bekehrte an seinen ursprünglichen Standort zurück und kauerte nun wieder in geduckter Haltung hinter dem Gatter. Mir stockte der Atem, als er das Geländer überquerte. In diesem Moment dachte ich, es sei alles vergebens gewesen.

 

Doch der Psychologe hatte mittlerweile fast eine so große Nähe erreicht, wie ich selbst, während die anderen Polizisten den Rückzug angetreten hatten. Was dann gesprochen wurde, ist mir nicht mehr genau in Erinnerung, sondern nur noch die Stimmlage des Polizisten, die anscheinend nicht nur auf mich einen beruhigenden Einfluss hatte. Wiederum setzte der junge Mann nach einigen Minuten zur Kletterpartie über’s Geländer an, nachdem er sich ausbedungen hatte, dass man ihn nicht anfasse. Da ihm dieses zugesichert worden war, stand er glücklicherweise tatsächlich dort, wo er sein sollte.

 

Inzwischen waren weitere Polizeibeamte eingetroffen. Niemand unternahm einen Versuch, nach ihm zu greifen. Allzu deutlich hatte er bewiesen, wie flink er sich entziehen konnte und dann vielleicht dieses Mal mit schlimmen Folgen. In gehörigem Abstand umringten wir ihn, der nicht so recht zu wissen schien, was er nun unternehmen sollte. Mit einem Mal setzte er sich in Bewegung und ging in die Richtung, in der seine Lebensgefährtin verschwunden war. Mit zögerlichen Schritten und so eng wie möglich ans Brückengeländer entlang, entfernte er sich vom bisherigen Ort des Geschehens. Ohne sich nochmals umzusehen, ging er von der Stelle fort, an der ich selbst stehen blieb. Seine uniformierte Eskorte hielt mächtigen Abstand. Der Halbkreis von Polizisten, von dem er umgeben war, war an der Stelle nicht geschlossen, die die Richtung seiner Schritte ausmachte. Mit größter Anspannung verfolgte ich die Szene, die noch immer die Möglichkeit eines Sprungs über die Brüstung barg.

 

Erst als er so weit gelaufen war, dass ein Sprung von der Brücke nicht mehr seinen sicheren Tod bedeutete, sprangen einige Beamte auf ihn zu und warfen ihn zu Boden. Ich wandte mich in diesem Moment von diesem Anblick ab. In dieser Lage wollte ich ihn nicht sehen. Natürlich war mir klar, was notwendig war, doch es war mir nicht recht, ein Augenzeuge davon zu werden, wie er überwältigt und abgeführt wurde.

 

Mir stand deshalb nun ein Polizeibeamter gegenüber, der ebenso erleichtert war, wie mein Unterstützer und ich selbst. Mir ging durch den Kopf, dass ich Kontakt zu den blutverkrusteten Armen des Mannes gehabt hatte, der nunmehr fortgeführt werden durfte. Zum ersten Mal dachte ich darüber nach und einige Bedenken zu Erkrankungen traten auf. Diese Sorgen teilte ich dem Beamten mit. Er erklärte mir, der junge Mann sei nicht als Aidskranker bekannt. Abgesehen davon bot er mir dennoch ein Desinfektionsmittel an, mit dem ich meine Hände einsprühen lassen konnte. Bei dieser Beschäftigung erfuhr ich, dass der Mann den Behörden bekannt war. Ein Haftbefehl bestehe nicht. Es sei schließlich von einer Vergewaltigung nichts bekannt. Niemand habe eine Anzeige erstattet. Aber von seinem Verfolgungswahn habe man Kenntnis.

 

Der Beamte sagte meinem Unterstützer und mir: „Das haben Sie gut gemacht.“

 

Ohne es auszusprechen überlegte ich mir, wie sich die Affäre entwickelt hätte, wäre nicht ich dem jungen Mann begegnet. Was wäre geschehen, wenn ein anderer, einer zum Beispiel, dessen Leben von einem abgrundtiefen Hass auf Vergewaltiger bestimmt gewesen wäre, ihn hätte halten sollen.